Auszug aus dem Katalogtext
Renate Olbrich – “CHAMÆLEON...”
Wohl kaum etwas existiert auf der Welt in
größerem Überfluss als Fotografien, und da stellt sich durchaus die Frage,
warum nun ausgerechnet Künstler zu diesem Überangebot noch beisteuern
sollen. Die zur Kunst gerechneten Bilder machen allerdings nur einen
verschwindend kleinen Teil der Gesamtheit von Fotografien aus, was William
M. Iveins jr. in seinem 1953 erschienenen Buch ‘Prints and Visual
Communication’ bereits für die Druckgraphik feststellte. Ihre Bedeutung sei
„für die Wissenschaft, Technik und das allgemeine Informationsbedürfnis
zweifellos größer als für die Kunst“. Für die Fotografie wäre Ähnliches zu
konstatieren.
Diese außerhalb des Kunstsystems selbstverständliche Einsicht kann
allerdings auch produktiv auf die Kunst zurückwirken, was die Arbeiten von
Renate Olbrich belegen. Sie setzt die Fotografie nicht als Dokumentation
ein, sondern transformiert sie durch die von ihr entwickelte Technik der
Solarisation in eine Bildsprache, die von ihrem Erscheinungsbild
Ähnlichkeiten zur Malerei aufweist. Einzelne Kompositionen gleichen
malerischen Farbverläufen. Die ursprüngliche Farbgebung der einzelnen
Bildelemente wird durch eine expressive Farbnuancierung ersetzt.
Der Titel der Ausstellung verweist auf diesen Modus dieser Umgestaltung –
Gegenstände wechseln chamäleonartig ihr äußeres Erscheinungsbild. Deren
ursprüngliche Funktion bleibt erhalten, was sich ändert, ist der
Wahrnehmungs- radius. Licht und Schatten nehmen dabei eine wesentliche Rolle
ein. Ausgeprägte Details provozieren eine imaginäre Welt, die an
computergenerierte Bilder erinnern.
Renate Olbrich arbeitet jedoch mit einer herkömmlichen, analogen
Kamera und die abgelichteten Resultate sind klassische Handabzüge, die sie
meist in Serien zusammenstellt. Oft stehen sich konträr anmutende
Gegenstände gegenüber, wodurch die optische Irritierung, die durch die
Technik der Solarisation entsteht, noch verstärkt wird. So zum Beispiel in
der Arbeit ‚Hinter der Maske’ aus dem Jahre 2002: Eine groteske
Theatermaske, die durch trauernde Gesichtszüge gekennzeichnet ist, lehnt an
einem alten, in lateinischer Sprache verfassten Buch. Im Hintergrund
befindet sich eine Terrakotta-Schale. Was sich inhaltlich im Detail hinter
der Maske verbirgt, bleibt den Vorstellungen des Betrachters überlassen.
Ein
ähnlich offenes Bildverständnis charakterisiert aus dem gleichen Jahr die
Fotografie ‚Der Affe des Philosophen’ Im Zentrum steht eine leicht nach
links geneigte, antike Statue, deren Oberkörper und Kopf vereinzelt mit
einer glitzernden Folie überzogen ist. Sie trägt einen Bart, der als
Attribut des Gelehrten gilt. Über der Statue, durch den Bildrand
angeschnitten, erkennt man die unteren Gesichtspartien eines Kopfes mit Nase
und Mund. Hinter der antiken Figur lugt ein Chamäleon hervor. Doch wo ist
der Affe, der in der Bildallegorie den Menschen symbolisiert, der in seinen
Nachahmungen versucht, gottgleich zu werden? Ein Vorhaben, dass man häufig
dem Philosophen unterstellt. Die unterschiedlichen Bildzusammenstellungen in
den einzelnen Arbeiten bewirken einen individuell differenzierten
Empfindungsprozess, der neue Bildkombinationen und –zusammenhänge
ermöglicht. Gleichzeitig bestätigt die Künstlerin Walter Benjamins
Formulierung, dass die Fotografie den „Sinn für Gleichartiges schärft“.
Durch das Nebeneinanderstellen einzelner Fotos aus unterschiedlichen Quellen
treten durch die Solarisation gleichartige Strukturen hervor, die durch die
intensive Farbgebung wieder konterkariert werden. Renate Olbrich
verdeutlicht, dass sich häufig erst etwas zeigt, wenn es in neue
Zusammenhänge von Bildern gestellt wird. Trotzdem scheint es das „an sich“
oder „von selbst“ Sichtbare nicht zu geben, auch wenn es der scheinbaren
Unmittelbarkeit der fotografischen Apparaturen von Anfang an untergeschoben
wurde. Und wie es Paul Klee für die Malerei formuliert hat, gibt die
Fotografie nicht nur das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar. Ihre Welt
ist nicht das „an sich“ Sichtbare, sondern was durch sie sichtbar wird, also
das (vorher) Unsichtbare. Dies wird durch die Technik der Solarisation
eindringlich veranschaulicht.
Von „der“ Unsichtbarkeit lässt sich jedoch
kaum angemessen sprechen, denn wir haben es mit einer Reihe von ganz
verschiedenen Unsichtbarkeiten zu tun, die jedoch nur selten analysiert und
systematisch voneinander unterschieden werden. Einen der wenigen Versuche
unternimmt die amerikanische Fotokritikerin Rebecca Solmit in ihrem Essay zu
den ‚Desert Cantres“ von Richard Misrach, einer Fotoserie über Gegenden im
amerikanischen Mittelwesten, die als Atom- und militärische Testgebiete
dienten.
Solmit unternimmt Differenzierungen von Unsichtbarkeiten, die in
abgewandelter Form auch auf die Arbeiten von Renate Olbrich zutreffen: „Die
erste könnten Dinge sein, die materiell existieren – wie etwa Strahlung oder
Sauerstoff –, aber nur selten sichtbar werden. Die zweiten wären
Abstraktionen wie Gewalt oder Liebe, die nur in Form bestimmter Handlungen,
Folgen oder Ursachen an die Oberfläche treten. Drittens gibt es Tatsachen,
die in unserer Kultur verdrängt werden. [...] Viertens wären da die Regeln,
die bestimmen, was wir zu sehen willens oder fähig sind – Regeln, die zudem
selten genauer untersucht werden. Fünftens wäre da alles, das hochgesichert,
klassifiziert, unterdrückt, versteckt, bewahrt ist [...]. Das Sechste wäre,
was zeitlich begrenzt ist, was schon geschah oder erst passieren wird.“
Solmits Phänomenologie der Unsichtbarkeiten ließe sich ergänzen. So wird,
wer den Maßstäben einer Gesellschaft eng angepasst lebt, in gewisser Weise
unsichtbar, weil er abstreift, was ihn von anderen unterscheiden könnte. In
einer Menge untertauchen heißt, sich in ihr zu verstecken. Physisch
verschwindet man nicht, wird aber ununterscheidbar. Dieser räumlichen
Indifferenz entspricht eine zeitliche. Was immer an seinem Platz bleibt,
nehmen wir irgendwann nicht mehr wahr.
So können Menschen, die sehr lange an
einem Ort sind, für andere Menschen durch Gewöhnung unsichtbar werden.
Gleiches gilt auch für den alltäglichen Gegenstand. Gegen diesen Prozess der
Gewöhnung wendet sich Renate Olbrich, indem sie durch die Solarisation, die
Sicht auf die Dinge aus einem anderen Blickwinkel ermöglicht, und diesen
dadurch zu einer bis dahin nicht gekannten Bedeutung verhilft. Es geht
darum, das Unsichtbare dem Betrachter durch dessen angeregte Introspektion
sichtbar zu machen. Während der Entstehung ist das Bild ein Abbild des
Bewusstseins der Künstlerin.
Durch eine immerwährende Weiterentwicklung des
Bewusstseins – und das gilt sowohl für Renate Olbrich als auch für den
Betrachter – entwickelt sich der Zustand des Bildes und macht immer neuen
Erkenntnissen Platz. Durch die angeregte Introspektion fokussiert Renate
Olbrich das Interesse auf ein „Ich“, das symbolische Muster imitiert, die in
der Solarisation zum Ausdruck kommen. Der wahre Zwiespalt ist dabei nicht
der zwischen Subjekt und Objekt, sondern der zwischen dem Subjekt und seinem
Selbst.
Mit den Worten des Philosophen Slavoj Zizek gesprochen bedeutet
dies: „Das Selbst ist ein Objekt, das dem Subjekt, dieser Leere der reinen
Negativität, von außen ein Minimum an Substanz verschafft.“ Renate Olbrichs
Solarisationen gehen über dieses „Minimum an Substanz“ noch hinaus: Sie
schärfen den Blick auf das Detail!
Dr. Oliver Zybok
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